AW: [Kanzler/Minister] Wen hättet Ihr gerne? Wer wird's?
Also ist doch eine Rückkopplung mit dem Islamismus möglich?
Scholl-Latour: Die Attentate von Istanbul 2003 sprechen da schon eine deutliche Sprache.
Während die Beitritts-Befürworter daraus schließen, man müsse die Türkei gerade deshalb aufnehmen, wollen das die Beitrittsgegner "gerade deshalb" nicht.
Scholl-Latour: Die Türkei mal als Bollwerk gegen, mal als Sprungbrett für den Terrorismus - oder als Brücke zur islamischen Welt. Jede Seite hat für ihre Zwecke die passenden Schlagworte und Irreführungen parat.
Joschka Fischer hat den Beitritt der Türkei als "D-Day für den islamischen Terrorismus" bezeichnet.
Scholl-Latour: Ganz abgesehen von dem inhaltlichen Unsinn, was für eine ungeheuerliche Formulierung! Für die Alliierten war der D-Day ein großer Sieg, für die Franzosen der Beginn der "Libération", für die Deutschen war er der Tag der "Invasion" - ich habe mehrere Klassenkameraden, die in der Normandie gefallen sind.
Fischer spielt natürlich auf die alliierte Interpretation an.
Scholl-Latour: Ich glaube, die Politiker wissen einfach nicht mehr, was das Volk denkt. Für den einfachen Deutschen ist der Startschuß für eine solche Einwanderung per EU-Beitritt der Türkei genausowenig ein Glück, wie für den Durchschnittsdeutschen von damals die Landung der Alliierten in der Normandie. Ich persönlich habe kein Problem damit, wenn in Deutschland schließlich Millionen weiterer Türken leben, aber man denke an den einfachen Arbeiter, in dessen Nachbarschaft sich plötzlich alles verändert, um den herum plötzlich lauter Fremde wohnen und ihre islamische Sitten und Gebräuche leben. Was für ein Identitätsverlust! Den Leuten nimmt man doch die Heimat!
Angenommen, die Türkei wird Mitglied der EU, wie würde sich das konkret auswirken?
Scholl-Latour: Erstens bekämen die türkischen Abgeordneten ein großer Anteil der Sitze im Europäischen Parlament - denn die Türkei wird bald das mit Abstand bevölkerungsreichste Land der EU sein - und dementsprechend großen Einfluß im Parlament ausüben. Zweitens käme es zu einer enormen wirtschaftliche Belastung für die EU. Drittens würden in Deutschland türkische Parteien entstehen, denn ich glaube nicht, daß die Türken, sich darauf beschränken würden, unsere Etablierten zu wählen. Schließlich käme es - wie schon gesagt - zur millionenfachen Einwanderung nach Deutschland. An Integration ist dann nicht mehr zu denken, dann haben wir hier bosnische Verhältnisse! Eine solche Einwanderung zu tolerieren, wäre eine eklatante Vernachlässigung unserer nationalen Interessen und würde eine verhängnsivolle Kluft zwischen Deutschen und Türken aufreißen.
Welche Politik würde eine türkische Partei in Deutschland machen?
Scholl-Latour: Das kann ich nicht vorhersagen, aber sie würde natürlich türkische und nicht deutsche Interesse vertreten, und das ist auch ganz normal. Und sie träte wohl um so selbstbewußter auf, je größer ihre wachsende Volksgruppe wird. Zu befürchten ist sogar, daß der Islam in Deutschland eine neue Dynamik gewinnt. Die Gefahr besteht, daß sich gerade in der schwierigen Situation türkischer Einwandererghettos die "religiöse Welle" besonders dominant ausbreitet. In den meist verwahrlosten Ghettos, in die sich wie etwa in Frankreich vielfach nicht einmal mehr die Polizei hineintraut, sorgen die Religiösen für Ordnung, Disziplin und Sicherheit.
Endziel Kalifat Europa, wie manche befürchten?
Scholl-Latour: Zwar ist eine Zwangsbekehrung von Christen und Juden nicht erlaubt, aber natürlich ist der Islam eine Religion mit dem Anspruch weltweiter Gültigkeit - so wie einstmals auch das Christentum.
Der ehemalige "FAZ"-Journalist Udo Ulfkotte warnt vor einem "Krieg in unseren Städten" .
Scholl-Latour: Den fürchte ich ebenfalls, allerdings kommt dieser Krieg nicht unbedingt aus der Türkei.
Anders als die Anschläge vom 11. September 2001, die von ausländischen, eingereisten Terroristen verübt wurden, prophezeit er auch Terror durch einheimische, hier aufgewachsene Islamisten.
Scholl-Latour: Diese Gefahr ist längst offenkundig, denken Sie an den Mörder Theo van Goghs, der ein integrierter, in Amsterdam aufgewachsener Marokkaner mit niederländischer Staatsangehörigkeit war. Man muß aber unterscheiden, daß es sich hierbei nicht um einen Widerstandkampf wie zum Beispiel im Irak handelt. Hier haben wir es mit einer Verfälschung des Islam zu tun und mit einer Verwilderung der Sitten. Früher hätten etwa moslemische Kämpfer niemals eine Frau als Geisel genommen und hingerichtet, wie jüngst die Leiterin von Care im Irak, zumal wenn sie zuvor so viel Gutes getan hat wie Margaret Hassan. Ich erinnere mich noch, wie sich Beate Klarsfeld einmal als Austauschgeisel für im Libanon entführte Juden anbot. Sie wartete und wartete in ihrem Hotel, daß sie jemand abholen würde. Aber keiner kam, weil man eine Frau nicht als Geisel wollte. Denn das ist unislamisch und gilt auch den Muslimen als unehrenhaft.
Wie wird dieser enthemmte Krieg aussehen?
Scholl-Latour: Das können wir uns nicht vorstellen. Das Szenario von New York wird sich wohl nicht wiederholen. Ein Anschlag mit Radioaktivität - Stichwort "schmutzige Bombe" - ist vermutlich recht interessant für Terroristen.
Wann könnte es zu Anschlägen in Deutschland kommen?
Scholl-Latour: Jeden Tag! Ich hoffe natürlich, daß sie weder morgen noch zu einem anderen Zeitpunkt kommen, aber möglich ist es bereits heute.
Haben wir in der Vergangenheit Fehler gemacht, die diese Terrorgefahr für uns erst heraufbeschworen haben?
Scholl-Latour: Natürlich waren wir den USA eine gewisse Dankbarkeit für ihren Schutz im kalten Krieg und ihre Unterstützung bei der Wiedervereinigung schuldig, und außerdem hatten sie nach den furchtbaren Terroranschlägen vom 11. September 2001 unsere Solidarität verdient, aber die Tatsache, daß die Bundeswehr in Afghanistan steht, kann die Ursache dafür sein, daß wir schließlich auch Anschläge in Deutschland erleben. Denn eines Tages geht auch die Affenliebe der Afghanen für uns Deutsche einmal vorbei.
Helmut Schmidt nannte unlängst in einem Interview mit dem "Hamburger Abendblatt" die Einwanderung "seit Beginn der sechziger Jahre" einen "Fehler". Teilen Sie diese Sicht?
Scholl-Latour: Ja, allerdings betrachten ich auch die Einwanderer als Opfer der Einwanderung.
Inwiefern?
Scholl-Latour: Weil die erste Generation von Einwanderern aus blinder Gewinnsucht und ohne Rücksicht auf ihre Bedürfnisse ins Land geholt wurde. Sie verrichteten die schwierigen Arbeiten. Daß das Menschen sind, die ihre Familien, ihre Kultur und ihre Religion haben, daran hat kaum einer gedacht. Auch heute steht hinter der EU-Beitrittslobby die Raffgier der deutschen Wirtschaft.
Inwiefern sehen Sie die Einwanderung für Deutschland als Fehler an?
Scholl-Latour: Weil wir dadurch auf der einen Seite eine postchrisliche, weitgehend atheistische, auf der anderen Seite eine fromm-islamische Gesellschaft im Land haben. Das gibt auf lange Sicht Bürgerkrieg, dazu bedarf es keiner Attentate wie in Holland. Wenn schon die Kurden und die Türken nicht zusammenleben können, wie soll das dann zwischen Deutschen und Türken gehen?
Leiden unsere Politiker also an Realitätsverlust?
Scholl-Latour: Es herrscht viel Ignoranz, aber auch Heuchelei und Lüge. Die CDU sollte sich da nicht auf das hohe Roß schwingen. Die Erkenntnisse von Frau Merkel kommen reichlich spät.
Lüge? Warum, glauben Sie, tun sie das?
Scholl-Latour: Die einen, weil sie nicht zugeben wollen, daß ihre Achtundsechziger-Überzeugungen Lebenslügen sind, die anderen aus Feigheit, weil sie es für bequemer halten, sich dem Zeitgeist anzupassen.
Bassam Tibi hält immerhin einen Euro-Islam für möglich.
Scholl-Latour: Bassam Tibi ist mir wirklich ein lieber Freund, aber in diesem Punkt stimmen wir nicht überein. Es hat schließlich auch kein deutsches Christentum gegeben, obwohl die Nazis versucht haben, eines zu schaffen.
Also ist Multikulti am Ende?
Scholl-Latour: Was ist das nur für ein unsinniges Modewort? Das ist Popsprache, nichts weiter, überhaupt nicht ernst zu nehmen! Ich nenne Ihnen ein Beispiel für das ganz "alltägliche" Unheil, das solche Gesellschaftstheorien anrichten können. Der Sohn meiner damaligen türkischen Haushaltshilfe bekam dank eines "gutmenschlich" veranlagten Prüfers - eben weil er Ausländer war - sein Diplom in Volkswirtschaftslehre. Seine Mutter bat mich, ihn bei Gruner und Jahr, wo ich damals arbeitete, unterzubringen. Er war aber de facto einfach nicht gut genug für die Stelle. Wahrscheinlich glaubt er heute noch, er sei als Türke - trotz Diplom - abgelehnt und also diskriminiert worden. Das Schlimme ist, wie leichtfertig die Politiker heute alles in Gefahr bringen, was wir zum Teil über Jahrhunderte an politischem "Kapital" angesammelt haben: die europäische Integration durch die Überdehnung der EU-Osterweiterung, die wertvolle, traditionelle deutsch-türkische Freundschaft durch das Wecken von Erwartungen, die nicht erfüllt werden können, unsere gesellschaftlichen Standards wie auch Frieden und Stabilität. Sehen unsere Politiker denn nicht, daß man eine Zivilisation zugrunde richten kann, wenn man ihre Substanz verleugnet? Der französische Schriftsteller und Philosoph Paul Valéry hat vor solcher Selbstaufgabe gewarnt: "Im Abgrund der Geschichte ist Platz für uns alle".
Prof. Dr. Peter Scholl-Latour: Der Orient- und Ostasien-Experte besucht seit 1951 immer wieder die Türkei. 1999 erschien sein Buch "Allahs Schatten über Atatürk. Die Türkei in der Zerreißprobe" (Siedler), in dem er schon frühzeitig auf die Tendenz der Re-Islamisierung des Landes hinwies. Geboren wurde der spätere Fernsehjournalist 1924 in Bochum, er studierte in Mainz, Paris und Beirut. 1969 wurde er Direktor des WDR, 1971 Chefkorrespondent des ZDF, 1983 Herausgeber des Stern. Seine Reisen durch die islamische Welt und seine zahlreichen Publikationen machen ihn derzeit zu einem der gefragtesten Interviewpartner in den deutschen Medien. Zuletzt erschienen: "Weltmacht im Treibsand. Bush gegen die Ayatollahs" (Propyläen, 2004).