Die Freiheit, durch fremde Welten zu surfen
Das Videospiel "Grand Theft Auto IV" gilt als Sensation, weil es die Grenzen seines Genres überwindet.
Wenn ein Videospiel als Revolution angekündigt wird, dann kann die breite Öffentlichkeit das meist nicht nachvollziehen. Doch der vierte Teil der Videospielserie "Grand Theft Auto" ist eine Sensation. Nicht zuletzt, weil "Grand Theft Auto", kurz GTA, nicht nur eine der beliebtesten Videospiel-Serien aller Zeiten ist, sondern längst als Musterbeispiel für die neue Welt des Entertaiment gilt.
Das Spielprinzip von GTA wurde von der ersten Folge an hitzig diskutiert, weil es mit dem Gut-Böse-Schema der Medienindustrie brach und Verbrecher zu Helden machte und das lustvolle Töten und Zerstörung als Weg zum Erfolg glorifizierte. Der Videospieler steuert keine soldatischen Helden, sondern versuchte als Soziopath in der Mafia-Hierarchie aufzusteigen - verfolgte also den amerikanischen Traum, die Biographie zwischen Tellerwäscher und Millionär, Handlanger und BigBoss. Der Hersteller Rockstar Games verkaufte bislang 70 Millionen Kopien der Serie.
Fans diskutierten schon seit Monaten in Millionen von Blog-Einträgen über GTA IV, über verfügbare Automodelle, Waffen, Grafik- und Story Details. Laut Google Analytics war das Spiel in den letzen Wochen einer der meist gesuchten Begriffe im Netz. Und der Eintrag im INternet-Lexikon Wikipedia wurde wegen "zu großer Debatte" vorübergehend gesperrt. Eine solche Breitenwirkung im Netz erreichen heute nicht einmal mehr die Blockbuster des Kinos, geschweige denn die neuen Platten der Popstars.
Was zunächst beeindruckt, ist die neue Steigerung des Realismus in diesem Spiel. Das wird einerseits durch die sogenannte "Rage Game Engine" in Kombination mit dem Animationsprogramm Euphoria erzeugt, durch welche die Figuren und ihre Umgebung sich weiter an die Natürlichkeit eines Trickspielfilms annähern. Der beeindruckende Realismus von GTA IV entsteht aber nicht nur durch die HD-Graphik und die künstliche Intelligenz der Playstation People, sondern auch dadurch, dass die Hauptfigur Niko Bellic in einer Mediengesellschaft lebt. Bellic rennt über den funkelden Times Square, im Autoradio laufen aktuelle Popsongs, zwischendurch melden sich neokonservative Hassprediger zu Wort, es gibt ein spielinternes Internet und die bekannten Instrumente Handy, Navigationssystem und Google Maps.
GTA erscheint (genau wie zum Beispiel die TV-Serie "Die Simpsons") als mediale Repräsentation unserer Zeit so glaubwürdiger, weil es die Tatsache anerkennt, dass unser Leben zu einem Gutteil aus Popkultur und Medienerfahrung besteht. Grimmige Szenen, die den Einsatz einer Panzerfaust erfiordern, wechseln sich ab mit mehr oder weniger subtiler Satire. Die Freiheitsstatue heißt in GTA IV "Statue of Happiness". Hier ist nicht die Freiheit der Ausgangs- und Endpunkt allen Strebens, sondern die stumpfe Erfüllung der Konsumentenlüste. Die Statue trägt dann auch ein debiles Grinsen auf dem Gesicht, und in der Hand keine Fackel, sondern einen Kaffeebecher von Starbucks. Wilkommen in der schönen neuen Welt. Wenn der Fernseher das Fenster zur Welt ist, dann ist das Videospiel eine Tür, durch die der Spieler gehen kann. um die Alltagswelt zumindest zeitweilig zu verlassen. GTA IV versetzt den Spieler in ein virtuelles New York, mit fünf Stadtteilen, den bekannten Sehenswürdigkeiten und den dampfenden Gullys und Hotdog-Ständen.
45 Minuten dauert es, die Spielwelt mit Taxi, Motorrad oder Speedboot zu durchqueren. Mit diesen raumgreifenden Aktionen werde dem Videospieler ein unbekanntes Gefühl von Freiheit vermittelt, die es in den herkömmlichen Spielen mit ihren eng gefassten Gängen end Ebenen nicht gibt.
"Open-World-Game" heißt dieses Videospiel-Genre, eine Mischung aus Actionspiel, Autorennen und Improvisation, bei der sich der Speler selbst entscheiden kann, ob er der Story-Line folgt und Missionen erledigt, oder lieber mit dem Auto über den Highway cruist. "Wir schaffen nur eine Umgebung. Darin lassen wir den Spieler von der Leine", meint etwa Rockstar-Chef Dan Houser, "es gibt ein Potential für Spielerfahrungen, die wir als Programmierer nicht mehr kontrollieren und antizipieren können."
Freiheit ist das utlimative Versprechen von neuen Medien wie Internet, Mobilfunk und Videospiel. Die Freheit, nicht nur passiv auf dem Sofa zu sitzen, sondern die Inhalte aktiv auszuwählen, seine eigenen Wege zu gehen. Die Lifestyle Industrie hat dafür den Begriff des "Surfen" geprägt. Und auch durch die Welt von GTA "surft" der Spieler. Neben den kriminellen Missionen, kann man sich bei einem Schneider neu einkleiden lassen, in einen Striptease-Club gehen, eine Runde Dart spielen oder doch lieber den Sonnenuntergang beobachten. Und gerade die Zeit, die man nicht damit verbringt eine der Aufgaben des Spieles zu lösen oder eines der Hindernisse zu überwinden, schaffen jenes virtuelle Freiheitsgefühl, das es einem Spieler erlaubt, nicht nur in ein Spiel, sondern in eine fremde Welt einzutauchen.
Aber was fängt man mit dieser Freiheit an? Niko Bellic ist ein harter Junge, ein russischer Kriegsveteran, der sich im Vorspann mit den Worten einführt:" Ich habe Menschen getötet und Menschen geschmuggelt." In seinem Namen hört man das Echo von Krieg(Bellum) und Schönheit(Belle), und vielleicht passt das ganz gut zu einem Spiel, das sich der Tatsache rühmt, dass jede Explosion individuell errechnet wird.
Marinetti hätte das wohl gefallen. Für Medien-Morallisten und Anhänger von kausallistischen Medienwirkungstheorien aber stellt die GTA-Reihe eine Provokation dar. USA Today nannte das Spiel einmal ein "virtuelles Ausbildungsprogramm zum Verbrecher". Und 2006 verursachte das Spiel "GTA San Andreas" einen Skandal, als Hacker eine versteckte Sex-Szene im Code des Spiels entdeckten.
Auch wenn nicht geklärt ist, ob die Videospiel-Gewalt nun zur Aggressionssteigerung führt. oder eher einen Katharsischen Effekt besitzt, so ist GTA IV doch ein brutales Spiel und darf in Deutschland zu Recht erst ab 18 Jahren gekauft werden. Kriminalfantasie, nennt man das Spiel beim Hersteller Rockstar Games, und sieht die Gewalt und Gesetzesbruch eher als Metapher für "Freiheit und fehlende Vorhersehbarkeit". Niko Bellic ist einer der amerikanischen Helden und Hyperindividualisten wie John Rambo und Dirty Harry, die ein Leben jenseits von Tempolimit und Dispokredit führen. Und gerade das deshalbt so geliebt werden.