eX2tremiousU am 05.03.2008 16:49 schrieb:
Wer genießt, setzt sich aktiv mit dem Vorgang auseinander, er versucht (bei Musik oder einem guten Wein) die Besonderheiten und kleinen Nuancen zu erkennen. Er gibt sich dem Facettenreichtum des Gesamtwerks hin und sinniert über Aussage, Motivation und Intention. Dazu zählt sicherlich auch das Bestimmen von entsprechenden Passagen und den verwendeten Instrumenten.
Ich kann nur nochmal wiederholen was ich in meinem letzten Posting schon gesagt habe: Das trifft genauso auf elektronische Musik zu. Ich beschäftige mich seit Jahren passiv und aktiv mit Musikproduktion, deshalb würde ich auch behaupten, dass ich Musik mit anderen Ohren höre als ein normaler Konsument und, ohne überheblich klingen zu wollen, wesentlich mehr Ahnung davon habe. Ich hatte ein paar Jahre lang die Zeitschrift "Sound&Recording" abonniert. Da war mal ein Artikel über das Soloalbum des DJs und Produzenten der Fanta Vier drin ->
And.YPSILON - Y-Files. Das ist typische elektronische Musik, die in den Ohren eines genrefremden Hörers wahrscheinlich stumpf und monoton klingt. Und dieser genrefremde Hörer assoziiert damit wahrscheinlich pillenfressende Freaks, die extatisch tanzen bis sie in Ohnmacht fallen. Fakt ist aber, dass diese Art von Musik einen enormen Produktionsaufwand mit sich bringt und genau auf die selbe Art und Weise gehört werden kann wie klassische Musik. Im Interview hat And.YPSILON über Details der Produktion und die Komplexität der Arrangements erzählt, z.B. dass einer der Songs über 1000 (!) Spuren hat. 1000 Spuren! Natürlich wirst du jetzt sagen, dass ein Mozart keinerlei technische Hilfsmittel hatte, nur eine leere Partitur und einen Stift. Aber das ändert nichts am Anspruch, weder bezogen auf den Produzenten und schon gar nicht auf den Hörer.
Es bringt mich auch immer wieder auf die Palme, wenn ich diese Vorurteile gegenüber Synthesizern höre. Manche glauben tatsächlich, man müsse nur auf den On/Off-Button drücken und das Teil programmiert sich von selber. Spielen muss man es natürlich auch nicht, das erledigt die eingebaute KI. So ein Schwachsinn. Ich behaupte sogar, dass ein Synthesizer wesentlich mehr Möglichkeiten mit sich bringt als ein traditionelles Musikinstrument, dabei aber genauso anspruchsvoll zu spielen ist. Eine Klaviatur ist nun mal ein Klaviatur, egal ob am Flügel oder am Synthesizer. Natürlich kann man ein Klavier expressionistisch spielen, aber die Möglichkteiten sind stark begrenzt. Da wo es bei einem Klavier schon aufhört, da gehts bei einem Synth erst richtig los. Wenn ich beim Synth eine Stunde lang nur eine Note gedrückt halte, kann ich mit Filter-, Hüllkurven- oder sonstigen Modulationen spielen, das Ganze durch die Effektsektion schleifen, an der ich die ca. 200 Parameter mit verschiedensten Controllern in Echtzeit moduliere. Dazu läuft ein Drumloop, den ich ebenso modulieren und arrangieren kann. Abwechslung pur, bei nur einer einzigen gespielten Note und einem Drumloop.
Ich will damit sagen, dass klassische Musik zwar wesentlich komplexer in Bezug auf Arrangements und Harmonien sein mag als alle anderen Genres, dafür aber in anderen Belangen deutlich unterlegen ist. Beispielsweise Improvisation: Ein Orchester ohne Noten ist wie ein Action-Film ohne Choreografie, oder eine Baustelle ohne Architekturpläne. Das ist schlicht und ergreifend nicht möglich. Jede konventionelle Rockband dagegen kann stundenlang improvisieren ohne dass es langweilig wird (wenn sie halbwegs Talent haben). Anderes Beispiel: Das musikalische Spektrum. Klassik bewegt sich in einem engen Korsett. In einem Genre wie HipHop sind eigentlich keine Grenzen gesetzt. HipHop-Beats sind elektronisch, organisch, akustisch, minimalistisch, komplex, traditionell, experimentell, asiatisch, südländisch, aggressiv, melancholisch, hymnisch, sauber, dreckig, eckig oder fleckig. Sky is the limit.
SSA