AW: Stimmen & Meinungen zum EU-Beitritt der Türkei
aph am 18.12.2004 14:46 schrieb:
JimBeam1 am 18.12.2004 13:34 schrieb:
1. Die Türkei ist ein riesiges, völlig verarmtes Land mit 70 Millionen Einwohnern. Horrende Verschuldung, viel höhere Arbeitslosigkeit als hier, eine Inflationsrate von ca.40%!
Einer europäischen Studie zufolge müssten die "Geber-Staaten" in der EU die Türkei mit jährlich ca.30 Milliarden!!!!! EURO aufpäppeln, um sie in einigen Jahrzehnten!! auf EU-Wettbewerbsfähiges Niveau zu bringen.
Diese Zahlen stimmen nicht. Ich kann dir mal die Zahlen nennen, die die
CDU/CSU für ihre Kampagne nutzen:
Die Türkei macht seit der Wirtschaftskrise 2001 riesige Sprünge. Ein jährliches Wirtschaftswachstum von ca. 5%, Inflationsrate auf 12% gefallen.
Selbst im schlimmsten Szenario, dass die Union sich ausdenkt, wären die Zahlungen 14Mrd, und nicht 30. Sollte die türkische Wirtschaft jedoch weiter so wachsen, wird sie in 15 Jahren wohl eher als Geber-Staat einsteigen.
2. Die sicherlich einsetzende Masseneinwanderung aus den ärmsten Gebieten Anatoliens.
Dafür wirds Beschränkungen geben (wie auch schon bei der jetzigen Erweiterungsrunde). Nur dass die Übergangsfrist dann sicher 10-20 Jahre betragen wird, nicht nur 7.
Ich wäre wirklich dankbar, wenn mir endlich mal jemand ersntzunehmende Gründe "Pro-EU-Aufnahme" nennen könnte.
Ich persönlich brauche die nicht, da ich in ferner Zukunft eh einen "Welt-Staat" sehe. Anders sind die globalen Probleme gar nicht zu lösen. Da ist die Aufnahme der Türkei ja nun wirklich nur ein erster Schritt. *g*
Sorry aber zu Deiner, aus meiner Sicht hanebüchenen Theorie, dass die Türkei vermutlich als Geberland in die EU kommt, habe ich mal im Internet etwas herumgegooglet und folgendes gefunden.
Ist zwar ziemlich viel zu lesen, aber wen das Thema tatsächlich interessiert, wird sicherlich kein Problem damit haben.
Eine wesentliche Grundfrage ist, ob die Türkei geografisch, geopolitisch, politisch und kulturell zu Europa gehört. Die Staats- und Regierungschefs haben in Helsinki politisch entschieden, die Türkei als Kandidaten anzuerkennen, doch blieb die Frage nach der Grundlage der Entscheidung unbeantwortet.
Das Staatsgebiet der Türkei liegt zu 3 % in Europa und zu 97 Prozent außerhalb Europas, 11% der türkischen Bevölkerung leben auf europäischem Boden. Die Türkei grenzt unter anderen an den Iran, den Irak, Syrien und den Kaukasus. Geopolitisch ist die Türkei überwiegend als ein Teil des Nahen Ostens anzusehen.
Die geografische Teilzugehörigkeit zu Europa wirft die Frage nach Implikationen eines Beitritts auf andere Randstaaten (Russland, Nordafrika,...) auf.
4) Die Europäische Union, eine Union der Bürger und Staaten
Die Europäische Union wurde als eine Union der Bürger und der Staaten mit dem Ziel, die Zukunft gemeinsam zu gestalten, konzipiert. Der Beitritt eines Staates zur EU ist daher mehr als der Beitritt zu einer multilateralen Staatenorganisation. Da die Union auch eine Union der Bürgerinnen und Bürger ist, kann die Frage der Auswirkungen des Beitritts eines Landes auf die europäische Gesellschaft und ihre Kultur nicht ausgeblendet werden.
Bei den bisherigen Erweiterungsrunden der Europäischen Union ergab sich nie die Frage, ob der Prozess der europäischen Integration den geographischen und kulturellen Rahmen Europas sprengt. Trotz vorhandener unterschiedlicher Traditionen und Ausprägungen im Bereich der Politik, des Rechtssystems, der Kultur und der Religion war unter den vorhandenen und künftigen Mitgliedsstaaten der Union eine Basishomogenität aufgrund des gemeinsamen geistig-kulturellen Erbes gegeben. Diese Basishomogenität braucht jedes politische Gebilde , um auf Dauer bestehen zu können. Diese gemeinsamen geistigen und kulturellen Wurzeln Christentum, Humanismus, Aufklärung und kritischer wissenschaftlicher Rationalismus haben die europäische Gesellschaft geprägt und bestimmen trotz der gegebenen Vielfalt in hohem Maß die Identität der Europäischen Union.
Die Union ist eine Schicksalsgemeinschaft der Europäer und die Solidarität ist ein wesentlicher Baustein der Union. Für die Zukunft der Union ist es unabdingbar, dass Europas Völker zusammenwachsen und aus den Bürgern der Union bewußte europäische Bürger werden. Ein echtes Wir-Gefühl im Rahmen der Union kann aber nur auf der Grundlage gemeinsamer geistig- kultureller Wurzeln und gemeinsam erlebter Geschichte entstehen. Der schwierige Prozess europäischer Identitätsstiftung und der Schaffung einer echten europäischen Bürgergesellschaft darf durch die Erweiterungspolitik der Union nicht gefährdet werden.
5) Der Erfolg der historischen Erweiterung darf nicht gefährdet werden.
Am 1. Mai 2004 nahm die Europäische Union 10 neue Mitglieder auf. Diese historische "Erweiterung" der Union ist im Grunde genommen keine Erweiterung sondern eine Wiedervereinigung von europäischen Völkern, die durch die Folgen des II. Weltkrieges künstlich geteilt wurden. Die Aufnahme der 10 Mitgliedsländer war daher ein wichtiger Schritt im Sinne der Fortführung des Prozesses der Einigung Europas. Es ging nicht um die reine Ausweitung des Unionsgebietes. Die soeben erfolgte Erweiterung stellt für die Union eine gewaltige Herausforderung - politisch und wirtschaftlich - dar und hat zur Folge, dass die Aufnahmefähigkeit der EU praktisch ihre Grenze erreicht hat. Die volle Integration der neuen Mitgliedstaaten wird Jahrzehnte dauern.
Die Europäische Union ist politisch und institutionell auf diese neue und gewaltige Aufgabe kaum ausreichend vorbereitet. Die Annahme der Verfassung ist ein wesentlicher Schritt, die erweiterte Union handlungsfähiger zu machen. Der derzeitige Verfassungsentwurf stellt jedoch alleine die künftige Funktionsfähigkeit der Union noch nicht sicher. Die politische Unionsbildung muss dringend fortgeführt werden, damit die Union im Sinne der Verfassung nicht nur eine Union der Staaten sondern der Bürger wird. Die EU braucht jetzt Zeit, alles zu verkraften und sich zu konsolidieren.
Die erste Priorität europäischer Politik muss es daher sein, die Europäische Union zu konsolidieren, ihre Funktionsfähigkeit zu stärken und die politische Unionsbildung voranzutreiben. Will man die drohende Überdehnung der Union vermeiden, ist es unvermeidlich, auch einmal die Grenzen der Union zu bestimmen. Dieses Thema wurde bisher weder auf politischer Ebene noch im Rahmen der Öffentlichkeit offen und eingehend. diskutiert.
6) Das sicherheitspolitische Risiko einer strategischen Überdehnung.
Die Aufnahme der Türkei in die EU wird teilweise mit dem Argument begründet, dass eine Erweiterung der EU in den Nahen und Mittleren Osten die Stellung der EU in diesem strategisch wichtigen Raum stärken würde und die Union damit einen strategisch wichtigen Vorposten in diesem Raum bekäme. Das würde sie zu einem wichtigeren globalen Akteur machen. Eine strategische Ausdehnung der Union in den Mittleren Osten bringt das "eherne geopolitische Gesetz", dass derjenige, der einen Raum beherrscht, auch die mit diesem Raum verhafteten Probleme erbt, zum Tragen.
Ein eventuelles Vorrücken der Grenzen der EU bis in die große Krisenregion des Nahen und Mittleren Ostens bedeutet ein erhöhtes Risiko, in Konflikte involviert zu werden, da von den 21 potentiell gefährlichsten Konfliktherden der Welt gemäß NATO-Analysen 19 im unmittelbaren Umfeld der Türkei liegen. Da die ESVP noch in ihrem Entwicklungsstadium ist und der EU die erforderlichen strategischen militärischen Mittel nicht ausreichend zur Verfügung stehen, fehlen derzeit ausreichende europäische Aktionsmittel zur Krisenbeherrschung dieses schwierigen sicherheitspolitischen Umfeldes. Im Gegenteil, die EU verliert sogar mit der Annäherung an den Mittleren Osten über das Schwarze Meer und Anatolien einen Sicherheitsabstand zu einem Raum, dessen Dimensionen und Konfliktpotentiale jenseits der derzeitigen realen Möglichkeiten europäischen Handelns liegen. Ein Beitritt der Türkei wäre daher für die EU nur äußerst bedingt ein Sicherheitsgewinn und würde die strategische Reichweite der Union überdehnen.
Mit der Aufnahme der Türkei in die EU würde auch das politisch ungelöste Kurdenproblem zu einem internen Problem der Europäischen Union.
Die Union sollte der Stabilisierung der unmittelbaren europäischen Nachbarn vor allem am Balkan erste Priorität einräumen. Weiters ist zu bedenken, dass, wenn die EU sich entschließt ein euro-asiatisches Land aufzunehmen, sie einem strategisch wichtigen, eindeutig europäischen Staat wie der Ukraine eine Aufnahme in die Union nicht verwehren kann. Auch Russland, eine euro-asiatische Macht, könnte die Aufnahme in die EU nicht verwehrt werden.
7) Die wirtschaftlichen Implikationen.
1. Die Vorteile
Aufgrund der geringen Wirtschaftskraft der Türkei im Vergleich zur EU kann man darauf schließen, dass die wirtschaftlichen Vorteile für die EU sehr gering sein werden. Die größten Vorteile sind durch die seit 1996 bestehende Zollunion bereits weitgehend ausgeschöpft. Außerdem ist die Türkei ein kleiner Markt. Derzeit ist ihre Wirtschaftskraft mit 212,3 Mrd. Euro (2003) geringer als jene Österreichs mit 224,3 Mrd. Euro (2003). Selbst mit einer Verdoppelung wäre der türkische Markt immer noch kleiner als in den Niederlanden. Hinzu kommt die geringe Kaufkraft, die nur 28% der EU-25 beträgt. 2. Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind zu bedeutend, um darüber hinwegzusehen
Finanzierung und Verteilungskämpfe
Für die Finanzperiode 2007-2013 sehen die Vorschläge der EU-Kommission u.a. aufgrund der ersten und der zweiten Erweiterung bereits Erhöhungen des EU Budgets um 50% vor (von derzeit 95 Mrd. Euro auf 143 Mrd. Euro im Jahr 2013). Die Netto-Transferzahlungen an die Türkei werden gemäß verschiedener Berechnungen auf 15 - 20 Mrd. Euro geschätzt. Das entspricht einem Fünftel des derzeitigen EU Budgets! Zur Finanzierung dieser Transferzahlungen erscheinen weitere Erhöhung des EU-Budgets unvermeidbar.
Die Mitgliedstaaten, vor allem die Nettozahler, werden mehr in den EU Haushalt einzahlen müssen, was ihre ohnehin angespannte Hauhaltslage verschärfen wird. Es dürfte schwierig sein, die gleichen Ressourcen unter einer größeren Anzahl an Mitgliedstaaten und Aufgabenbereiche aufzuteilen. Große Auseinandersetzungen um die Verteilung der EU Haushaltsmittel sind unter diesen Umständen vorprogrammiert. Die politische Machtbalance wird durch die Aufnahme eines großen Landes wie der Türkei zugunsten der Kohäsionsländer innerhalb der Union verändert werden. Nach den Regelungen der EU-Verfassung würden die Nettozahler nicht einmal mehr über ein Sperrminorität im Rat verfügen.
Die Türkei wird jedenfalls über das 21. Jahrhundert hinaus wichtigster Nettoempfänger der EU sein. Mit 15 - 20 Mrd. Euro netto wird das Land ca. doppelt soviel bekommen wie Spanien