plutonium67 am 26.01.2007 16:34 schrieb:
Zum christlichen Prinzip_ Ich muss wohl nicht erwähnen, dass dieses Prinzip jemals im Mittelalter zu irgendeiner Zeit vorgelebt wurde! Insofern hat uns die Kirche kein bisschen vorwärts gebracht. Wenn Du den Fortschritt (dein erwähnter Nietzsche) darin siehst, wie kirchliche dogmen und ansichten vorzu widerlegt wurden, hat das nichts mit der ursprungsbehauptung zu tun, die kirche habe uns kulturell vorwärts gebracht. sondern die widerlegung ihrer als institution. die kirche HAT für uns einen grossen kulturellen anteil. aber in meinen augen überhaupt nicht den grössten.
Siehst Du, das sehe ich anders.
Ich beschäftige mich jetzt seit über 10 Jahren mit diesem (und verwandten Themen), habe zig Bücher (Primär- und Sekundärliteratur) gelesen etc. etc. Vorher war ich genau Deiner Meinung und musste diese Meinung nach und nach revidieren.
Ein solche großen Themenkomplex schriftlich in einem Forum zu behandeln ist schwierig.
- Woher willst Du wissen, dass dieses Prinzip nie im Mittelalter vorgelebt wurde? Es gibt so viele Biographien von Menschen, die im eigentliche Sinne des christlichen Ideals gewirkt haben und dabei in der Tat immer wieder postive Dinge losgetreten haben. Diesen Punkt kann ich nicht bestätigen.
Darüber hinaus muss man immer im Hinterkopf behalten, dass eine der ganz großen Stärken der katholischen Kirche, sich von innen neu zu reformieren. Martin Luther war im eigentlichen Sinne kein Reformator, sondern ein Revolutionär. Die eigentliche Reformation war die sog. Gegenreformation innerhalb der katholischen Kirche, die zum Beispiel den Ablasshandel beendete (um mal ein ganz plattes Beispiel zu nennen). Worauf ich hinaus will: es kennzeichnet die katholische Kirche sich in regelmäßigen Abschnitten von selbst zu erneuern. In diesen Erneuerungphasen war die Kirche ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus. Diese regelmäßige Erneuerungsfähigkeit ist kennzeichnend für die europäische Kultur und maßgeblich durch eine christliches Gedankengut geprägt. Insofern hat uns die Kirche weitergebracht.
- Wenn Kirchenkritik aufkommt ist sie
a) basierend auf Klischees, die häufig in der frühen Neuzeit erschaffen wurde, um die eigene neue Geistewelt über die des sogenanntne Mittelalter emporzuheben. Fragt man Leute, wieso die Kirche schlecht war, hört man zum Beispiel (so auch hier im Forum) Aussagen wie "die flache Erde", "Inquisition" oder "Ärztliche Versorgung". Geht man dann wissenschaftlich ins Detail, so muss man zum Beispiel erkennen, dass niemand im Mittelalter der Meinung war, dass die Erde flach ist (außer ein "durchgeknallter" Mönch, der schon zu Lebzeiten sehr umstritten war und zwei Bücher geschrieben hat, die dann in der Neuzeit zitiert wurden und das Klischee schufen), die Inquisition deutlich besser als ihr Ruf war (hatten wir hier bereits im Detail diskutiert) und viele ärztliche Aktivitäten in ihrer Zeit sehr fortschrittlich waren. Häufig wird dann zum Beispiel die (Fehl)Behandlung der Pest durch Reinigung der Luft kritisiert und dabei vergessen, dass die Menschen erst im 19. Jahrhundert entdeckten, dass Wasser der Hauptträger von Krankheitserregern ist. Also war in diesem Beispiel die kirchengeprägte Gesellschaft zumindest genauso schlecht wie die wissenschaftlich-rationale Gesellschaft 400 Jahre später.
Solche Beispiele lassen sich über Seiten fortführen. Habe ich leider die Zeit nicht für.
Ist dann eine Kirchenkritik gerechtfertigt muss man sie (und jetzt kommen wir zu Punkt B)
b) Im Kontext der Zeit deutlich relativieren. Damit meine ich: Man muss die durchaus negativen Eigenschaften einer christlich geprägten Gesellschaft im Kontext der Zeit betrachten und sehen was zur gleichen Zeit in anderen Kulturen abging. Und hier gewinnt die Christenheit fast auf ganzer Linie. Zwar sind zum Beispiel Dinge wie Judenverfolgung typisch christlich und keine andere Kultur kennt die systematische Unterdrückung von Minderheiten so stark wie die christlichen, aber wenn man dann die anderen Kulturen im Detail betrachtet, dann wird klar, dass diese in der Summe viel schlechter darstellen.
Es zeigt sich also, dass die Kritik nur als Kritik funktioniert, wenn man unser heutiges Wissen und unsere heutige Errungenschaft auf eine damalige Welt projeziert. Ein solches Vorgehen ist aber falsch. Es wäre so, als ob ich den Leuten vor 500 Jahren vorwerfen würde, dass sie noch kein Auto erfunden hatten. Das kann ich jetzt noch so schade finden, aber ich muss halt akzeptieren, dass er ein Karl Benz kommen musste, um den Motorwagen zu konstruieren.
Selbst wenn man jetzt mit einer gewissen Wehmut "Was-wäre-wenn"-Modelle aufstellen möchte, um zu zeigen, wo wir sein könnten, wenn zu einer bestimmten Zeit das eine odere andere gemacht worden wäre, dann muss man feststellen, dass es die christlichen Kulturen waren, die wenn auch nicht alles richtig, so doch die wenigsten Fehler gemacht haben. Ein weiterer Pluspunkt, dass das Christentum für die Entwicklung der Menschen gut war.
Das Potenzial der Christenheit, dem Menschen eine höhere Entwicklungsstufe zu ermöglichen zeigt sich ja auch daran, dass das Christentum die einzige Religion ist, die in ihrem Umfeld das Nachdenken über die Daseinsberechtigung von Gott ermöglicht hat. Während alle anderen Religionen über Jahrtausende oder zumindest Jahrhunderte keine Veränderung zeigten, geht das Christentum nicht nur durch regelmässige Erneuerungsprozesse, sondern am Ende auch in eine Phase, wo ihre "Kinder" die absolute Frage nach einer Existenz von Gott stellen und diese sogar zum Nachteil der Religion beantworten.
In keiner anderen Religion ist dies vorher passiert. Die Tatsache, dass jede noch so kleine Gesellschaft auf der Welt eine religiöse Vorstellung entwickelt, zeigt, dass der Mensch zu seiner geistigen Stabilität einen Gott, Götter oder Geister brauchte oder braucht. Die Tatsache, dass das Christentum die erste Religion ist, in deren Umfeld Gott verneint wird, zeigt, dass in einem christlichen Umfeld die Menschen bisher das höchste philosophische Potenzial erreicht haben. Philosophie als Mutter aller Wissenschaften heisst auch, dass christliche Gesellschaften das höchste wissenschaftliche Potenzial erreicht haben und somit auch das höchste technische Potenzial.
In dem ich mich als Atheisten bezeichne, stelle ich mich bewusst an das Ende einer langen Entwicklungskette. Ich weiss, dass ich ohne Christentum nie Atheist geworden wäre, weil es ohne Denkmodelle, die das Christentum eingeführt hat, diese Gedankengänge gar nicht möglich geworden wären.
Ich lasse mich gerne überzeugen, dass ich falsch liege. Ich schließe auch nicht aus, dass ich einigen Punkten falsch liege. Aber ich stelle regelmäßíg die Frage (nicht nur hier) und bekomme nie Antworten. Weiter oben habe ich nach säkularisierten Kulturen gefragt (Säkularisierung als ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg in eine atheistische Denkweise) und keine Antwort erhalten.
Einige haben meine Ausführungen kritisiert, ich habe die Kritik erwiedert und gehört, dass dies Korrelationen aber keine Ursachen sind. Ich habe nach den Ursachen gefragt und keine Antwort erhalten.
Ich bin gespannt.
Gruß
w.