Die aktuelle Entwicklung in der Türkei erinnert FRAPPIEREND an Deutschland 1933.
Erdogan hat dieses Jahr bereits mehrfach "eindrucksvoll" bewiesen, dass er vollkommen rücksichtslos und irrational handeln kann, daher kann ich Deine Einschätzung, er wäre "vergleichsweise ungefährlich", nur mit einem irritierten Kopfschütteln quittieren.
Vom dritten Reich ging eine massive Gefahr nach außen aus, inklusive extremer Aufrüstung und offenem Bekenntnis zu einer aggressiven Außenpolitik. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörten Invasionen, Angriffskriege usw. auch noch zur "normalen" Bandbreite von Politik, nicht nur in Deutschland. Das hat sich erst nach den Erfahrungen mit dem WW2 und der Einrichtung der UNO usw. geändert. Seitdem sind Staatsgrenzen im Prinzip absolut und echte Angriffskriege absolut verpönt. Die Situation heute ist also durchaus anders als vor 80 Jahren. Daher lassen sich die Entwicklungen in der Türkei imo auch nicht 1zu1 mit dem Aufstieg der Nazis vergleichen (was nicht heißt, dass es überhaupt keine Ähnlichkeiten in manchen Bereichen gibt).
Natürlich gehen von einer Diktatur bestimmte Gefahren aus, vor allem für die eigene Bevölkerung (bzw. Teile davon). Ich sehe allerdings nicht, warum von der Türkei mehr Gefahr ausgehen sollte als beispielsweise von Saudi Arabien, China, Russland oder auch den USA. In Weißrussland gibt es schon seit Jahrzehnten eine Diktatur, die niemanden im Westen interessiert. Diktatur bzw. Autokratie bedeutet nicht automatisch das immer gleiche Gefährdungspotenzial.
Ich würde übrigens auch bestreiten, dass Erdogan besonders irrational handelt bzw. gehandelt hat. Der Mann ist kein Dummkopf und fast alles, was er bisher gemacht hat, folgt einen bestimmten Plan bzw. hat ein bestimmtes Ziel, den Machterhalt. Und ja, Erdogan ist rücksichtslos. Aber zeig mir mal einen Top-Politiker, der das nicht ist. Mir fällt keiner ein, auch nicht im Westen.
Ich (und da stehe ich wohl nicht alleine da) traue dieser Sucuk ohne Weiteres einen Völkermord zu. Und wer zu sowas fähig ist, hat wohl auch keinerlei Probleme damit, einen Krieg vom Zaun zu brechen.
Warum sollte er das tun und mit wem? Einen Völkermord (wie auch immer man den jetzt definieren will) traue ich übrigens vielen Staaten und Menschen dieser Welt zu, nicht nur der Türkei.
1933 konnte sich übrigens auch so gut wie niemand vorstellen, dass keine sieben Jahre später schon wieder die "Rückrunde" zu 1914-18 ausgerufen werden sollte.
Das Aggressionspotenzial der Nazis war wohlbekannt. Man ging nur nicht davon aus, dass sie so schnell aufrüsten würden.
Geschichte wiederholt sich leider (fast) immer, daher sollte man bei entsprechenden "Warnzeichen" durchaus alarmiert sein.
Wie kommst du darauf, dass ich dagegen wäre, dass man die Sache kritisch im Auge behält. Ich habe nirgendwo behauptet, dass die Türkei ein Non-Issue wäre. Ich habe mich nur gegen die auf dieses Problem eingeengte mediale Aufmerksamkeit ausgesprochen.
Im Gegensatz dazu misst Du m. E. der US-Präsidentenwahl eine viel zu große Bedeutung bei. Selbst *wenn* (was ich nicht glaube) Trump die Wahl gewinnen sollte, halte ich ihn für völlig ungefährlich. Der Kerl ist nur ein ziemlich dämlicher Dampfplauderer; unter einem Präsidenten Trump wird vermutlich GAR nichts passieren, es wird weder eine "Mauer" geben (zu teuer, zu unrealistisch), noch wird es eine "Ausweisung sämtlicher Muslime" geben.
In einem Punkt gebe ich Dir aber recht: ich halte Clinton für viel "gefährlicher" als Trump, einfach weil die Frau intelligent ist.
Es ist ja nicht "nur Trump". Es sind große Teile der Bevölkerung, die sich gegenseitig aufschaukeln (wie übrigens auch in der Türkei und anderswo). Trump steht nicht im luftleeren Raum, ebenso wenig wie Clinton. Die haben ihre Unterstützer auf allen Ebenen. Viele Neocons scharren schon mit den Hufen, ganz gleich, ob Trump oder Clinton Präsident wird. Die Pläne zum Einmarsch in den Iran liegen bestimmt schon bereit. Ich halte also nicht Trump als Einzelkämpfer für gefährlich. Ich halte es für gefährlich, dass er eine aggressive Rhetorik pflegt und unglaublich leicht für Dummheiten missbraucht werden könnte.
Und die USA haben im Gegensatz zur Türkei ihr massives außenpolitisches Bedrohungspotenzial schon eindrücklich in der jüngeren Vergangenheit unter Beweis gestellt, siehe Afghanistan, siehe Irak, siehe Lybien, siehe Syrien. Dort sind tatsächlich jede Menge Leute gestorben und sterben immer noch und kein "Check" in den USA wollte oder konnte das verhindern. Im Gegensatz dazu ist die Türkei fast ein Pazifistenstaat.
Aber hier kommt wohl wieder unsere typische Schwarz-Weiß-Sicht auf die Welt zum Tragen. Die USA sind in "unserem Lager", also gehören sie zu den Guten, egal was sie machen (egal ob Angriffskrieg, ob Bombardierung von Städten, ob gezielte Morde, ob Folter, ob Internierung ohne Richterspruch usw). Gleiches gilt für Frankreich, GB, Deutschland usw. Wenn der gute Westen sein militärisches Potenzial auspacken, dann ist es bestimmt für die gerechte und gute Sache. Bei den bösen Muslimen oder den Staaten in Mittel- und Südamerika ist das natürlich was GANZ anders, ist klar. Wenn der Trump oder die Clinton mit den Säbeln rasseln, lehnen wir uns schön im Sessel zurück, wird ja bestimmt einen anderen treffen. Bei bösen Russen oder Türken ist man sich da natürlich nicht so sicher...
Aber warum siehst Du Venezuela dann als eines der international vorrangigsten Probleme an, mit dem sich die EU beschäftigen muss bzw. sollte?
Ich sehe die Vesorgung von Menschen, die akut von Hunger und Tod bedroht sind, immer als vorrangiges Problem an, das magst du mir verzeihen. Misst du nicht mit zweierlei Maß, wenn du möglichen Völkermord verhindern willst, aber gleichzeitig das reale und aktuelle Sterben durch Hunger ignorierst?
Hitler hat man auch mal für ungefährlich gehalten ...
Das ist kein Argument und das weißt du auch. Da musst du schon mehr aufbieten, wenn du mich überzeugen willst.
Edit: Die größten Druckmittel der EU sind imo übrigens ihre Touristen und ihr Geld. Bleiben die langfristig aus, könnte Erdogan im eigenen Lager enorm unter Druck geraten. Aber dazu kommt es ja eh nicht.