Es kann einen nicht überraschen, daß etliche in ihrer Hilflosigkeit jetzt wieder auf Computerspiele u.ä. verweisen. Dabei weiß man längst, daß bei solch schrecklichen Geschehnissen die Dinge niemals so einfach liegen. Die Psyche eines Menschen ist dafür viel zu komplex.
Für mich war Otto Shily mit seiner ersten Reaktion und Einschätzung ziemlich dicht dran. Wir müssen uns Fragen, was in der Gesellschaft los ist. Und was ist mit der Gesellschaft los?
Fakt ist, Deutschland ist kälter geworden. Leistungsdruck, Egoismus, fragiler werdene soziale Bindungen, fehlende Ideale und ein System, daß sich zunehmend zu einer Alles-oder-Nichts Gesellschaft entwickelt, in der nur noch die Starken, Schnellen und Schönen Platz haben. In der der Tisch nur noch für die Erfolgreichen reich gedeckt ist. Wer nicht funktioniert, wer nicht mithalten kann, nicht den gängigen Normen entspricht, fliegt erbarmungslos raus. Und wer erstmal das Gefühl hat, zu den Ausgegrenzten in der Gesellschaft zu gehören, der zieht sich schnell zurück.
Hilfe haben die Wenigsten zu erwarten. Schuld, so hören wir doch unisono, ist man immer Selbst. Ob Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, alleinstehende Mütter oder Jugendliche mit labilen Charakter. Die Rezepte sehen dementsprechend aus: positiv denken! reiß Dich zusammen! hör auf zu jammern! Alles ist möglich, wenn man denn nur will! Ergo: Hilf Dir Selbst!
Es ist ein Irrtum zu meinen, Jugendliche würden das so schnell nicht merken. Etliche durchschauen das eben sehr schnell und manche, die in der einen oder anderen Form davon betroffen sind, ziehen sich zurück und ziehen ihre ganz eigenen Konsequenzen daraus. Ob daraus sich so eine fatale Energie entwickeln kann, wie bei dem 19-jährigen Erfurter Amokläufer, wer kann das schon genau sagen? Das Gefühl der Rache führt offensichtlich heute zu ganz anderen Reaktionen. Die Hemmschwellen haben sich verschoben. Werteverlust? Fehlende Moral? Verschwindenes Unrechtsbewußtsein?
Wenn aus dieser Kette von unglücklichen Umständen sich so ein Jugendlicher zurückzieht und beschlossen hat sein Dasein zu beenden, sich aber - nach seiner psychologischen Gemengelage - noch rächen will, dann hat ein Computerspiel wohl sehr wenig, wenn überhaupt, damit etwas zu tun. Ich weiß, es klingt furchtbar zynisch, aber wenn er sich nun als Batman verkleidet hätte, würde man dann ein Verbot von Batman fordern? Okay, der Vergleich hinkt vielleicht, aber er zeigt doch auf, wie schnell man zu abstrakten Reaktionen neigen kann.
Was uns nach solchen fürchterlichen Ereignissen zu schaffen macht ist doch, daß wir nicht wissen was letztlich dazu führte und vielleicht damit leben müssen, so wie sich unsere Gesellschaft nunmal entwickelt. Fatalistisch? Brutal? Mag sein. Doch mir fehlt der Glaube, daß unsere Gesellschaft noch eine andere Richtung nehmen kann. Denn dazu gehörte, ans Eingemachte zu gehen: Wieviel ist uns unsere Sicherheit wert? Welche Ideale werden denn heute in einer Welt vermittelt, in der nur noch die Ökonomie zählt? Wie schädlich wirken sich die Medien mit ihrer Sensationshascherei aus? Warum haben wir keinen Platz mehr für Träumer, für Langsame und ermöglichen auch ihnen eine würdevolle Existenz?
Dies sind Dinge, die zur Disposition stehen müßten. Und nicht auf böse Computerspiele verweisen, nur weil es die einfachste und bequemste Lösung ist. In einer gesunden Gesellschaft, stellen diese nämlich überhaupt kein Problem dar.