Es macht einen großen Unterschied solche Nachher-Bilder zu sehen oder eine aktiv handelnde Person zu steuern, die diese Gewalt ausführt.
Ist das so ein großer Unterschied? Auch ein Film hat meist einen positiv besetzen Protagonisten, der einen als Identifikationsfigur durch die Handlung führt.
Beispielsweise Alice, die durchs Wunderland stolpert.
Der einzige Unterschied ist die Interaktion.
Im Idealfall kann man die Handlung in verschiedene Richtungen lenken.
Wie ist es jetzt zu bewerten, wenn man sich für eine "böse" Handlung entscheidet? oder einen Horror/Drama Film?
In Schweigen der Lämmer wird beispielsweise Hannibal Lecter als "Gentleman Mörder" dargestellt - das Publikum hegt am Ende eindeutig Sympathien für ihn, wünscht ihm vielleicht sogar, daß ihm sein Termin zum "Geschäftsessen" gelingt (was den Mord seines ehemaligen Gefängnisaufsehers beinhaltet). Man bedenke: Es handelt sich um Sympathie/einen Wunsch innerhalb der Fiktionalität der Filmhandlung.
Das ist ein entscheidender Faktor: das bewußte Abgrenzen der Spiel/Film-"Realität" gegen die Realität selber. Abgesehen von dokumentarischen Filmen, die reale Ereignisse nachstellen, haben wir es immer mit Fiktionalität (oft auch mit dem "Was wäre, wenn?" Faktor) zu tun.
Uns ist bewußt, daß weder das Half-Life Universum, noch die James Bond Bösewichte, die "Hangover" Typen, Skyrim, oder Freitag, 13. (Spiel oder Film) Realität darstellen. Das ist - mal flapsig ausgedrückt - alles Spinnerei.
Auch wenn "ich" in Mirror's Edge in halsbrecherischen Sprüngen über Häuserschluchten springe, ist es mir doch klar, daß ich das im Real Life™ nie schaffen würde. und ich würde es nie nachmachen.
Allerdings gehört dazu auch Medienkompetenz und Erfahrung. Ein Nachbarskind ist beispielsweise mal vom Garagendach gesprungen und hatte sich das Bein gebrochen, weil es Fan einer Fernsehsendung um einen Stuntman war. Entsprechende Alterfreigaben sind daher sinnvoll.
Apropos "ich": Wie ist das denn mit der Identifikation bei einem Spiel?
Wenn man über Spiele spricht, sagt man ja "
Ich hab den Drachen besiegt.", "Der hat
mich getötet." oder "Bist
du dieser grüne Gnom mit Zipfelmütze da auf dem Bildschirm?".
Genauso sagt man aber auch beim Mensch-ärgere-dich-nicht: "
Ich hab
dich rausgeschmissen.", "
Du hat
mich besiegt." oder in einem P&P RPG: "
Ich bin gestorben."
"Du mußt 2 ziehen" bezeichnet den gegnerischen Spieler, "Ich habe meinen Bauern geopfert." ebenfalls - Spielfiguren werden hier allerdings als Besitz verstanden und im schon genannten "
Ich hab
dich rausgeschmissen." ist die Grenze zwischen Spielfigur und Identifikation bereits verschwommen.
Allerdings wird sich niemand vorstellen, eine dieser Kegelfiguren zu sein ...
Bei realistisch wirkenden(!) Spielen und Filmen ist allerdings diese Möglichkeit gegeben: Man kann sich vorstellen, wie es ist, James Bond zu sein - bzw: genau das wird einem gezeigt. Oder man kann sich vorstellen, wie es wäre, wenn man plötzlich auf einer Insel mit mittelalterlicher Magie und Drachen wäre - und dann die entsprechende Geschichte selber schreiben.
Macht einen das "Schreiben" einer "bösen" Geschichte zu einem schlechten, psychopatischen Menschen? Ist Stephen King daher ein solcher Mensch, da er sich derart viele böse Kreaturen ausdenkt? oder ist es einfach Spaß am Entdecken, an der eigenen Fantasie, am Ausprobieren der Möglichkeiten, ohne Auswirkungen in der Realität (Opfer zu erzeugen und Strafe zu erhalten)?
Und was tut man denn genau in einem Spiel?
a) man spielt die Geschichte nach, die der Auto geschrieben hat
b) man spielt das Gameplay des Spieles
Letztendlich ist jede Möglichkeit, das Spiel zu spielen vom Autor festgelegt.
Will er nicht, daß man im Spiel Kinder tötet, dann kann man es schlicht nicht.
Kannst du beispielsweise in Mass Effect als böser Shepherd zum Kannibalen werden und immer einen abgetrennten Arm eines Gegners als Reiseproviant dabei haben?
Kannst du in Half-Life 2 Leute erpressen, damit du sie nicht an die Combine verrätst?
Kannst du als Lara Croft getötete Gegner an ein Kreuz nageln und brennend als Machtdemonstration aufstellen?
Kannst du alle Teilnehmer eines "All you can eat"-Chili Wettessens nachher in einen Raum sperren und die Lüftungsschächte zukleben?
All das demonstriert, daß die Macht, die der Spieler hat, vom Autor eingeschränkt wurde. Es handelt sich nur um eine
scheinbare "ingame Freiheit".
Genau wie im Film. Dort sieht man nur das, was der Filmemacher dich sehen lassen will.
Will er, daß du siehst, wie eine Person mit einer Axt in handliche Teile zerlegt wird, dann zeigt er das. Will er das
nicht, dann hörst du nur Schreie aus dem Off und siehst später kleine Päckchen.
Außerdem ist die reale Handlung deutlich von der ingame Handlung abgekoppelt.
In der Realität drückst du nur einen Maus-/Gamepadknopf, im Spiel greift der Charakter mit beiden Händen an den Axtgriff, holt aus, zielt und schlägt zu (je nach Animation auch mehrmals pro Knopfdruck)
Auch wenn ich im Nachhinein sage: "
Ich habe dem Zombie den Kopf abgeschlagen." statt "Ich habe
einen Charakter gesteuert, der in einem Spiel einem Zombie den Kopf angeschlagen hat." ist Letzteres doch genau die empfundene Realitätsebene, die ich beim Spielen habe.
Ich nutze die Interaktivität des Spiels, um eine der möglichen Geschichten nachzuerleben, die der Autor geschrieben hat. Egal, ob das jetzt die gute oder böse Variante war.
Und negativ beeinflussen tut mich das nicht. Obwohl ich ingame schon zig Zombies, Dämonen, Unschuldige Passanten, Verbrecher, Pinguine, Moorhühner, ... umgebracht habe und etliche teils sehr brutal inszenierte infilm Morde gesehen habe, kann ich im RealLife™
keiner Fliege was zuleide tun ... Ok, das nicht: Fliegen sind Arschlöcher
- aber sobald es an Lebewesen jenseits von Insekten geht, kann ich mich zu keiner Gewalttat hinreißen lassen. Ich wüßte nicht mal, ob ich einen Hund, der dahinsiecht, einschläfern könnte.
PS: Am besten bei jeder entsprechenden Szene Folgendes als Texttafel einblenden:
An dieser Stelle möchte der Autor einmal kurz innehalten und daran erinnern, daß
a) das alles Fiktion ist,
b) er diesen Ausbruch an Gewalt ganz und gar nicht befürwortet und
c) das wirklich ganz, ganz, ganz, ganz fiese Charaktere sind, die nicht dazu gedacht sind, als Vorbild zu taugen.