AW: Stimmen & Meinungen zum EU-Beitritt der Türkei
Bei dem Thema scheinen sich die Wirtschaftskenner ziemlich uneinig zu sein.
Ich habe kürzlich einen Artikel von einem Wirtschaftsexperten gelesen der meint dass der wirtschaftliche Gewinn für die EU durch einen Beitritt wenn überhaupt äußerst gering wäre, da die EU bereits jetzt zu einem der Haupthandelspartnern der Türkei gehört und der oft erwähnte große türkische Markt für EU-Waren kaum größer werden kann als es bereits ist. Und damit, dass türkische Waren nach einem Beitritt billiger werden ist auch nicht zu rechnen.
Die wenigen wirtschaftlichen Vorteile könnten seiner Meinung nach jedenfalls den Umstand nicht ausgleichen, dass die Türkei je nachdem wie die EU nun Änderungen in der Ausschüttung von Fördermitteln beschließt, jährlich zwischen 10-30 Mrd. € an die Türkei bezahlen müsste, weil fast der gesamte Osten der Türkei laut derzeitigem EU-Maßstab als Fördergebiet eingestuft wird.
Kürzlich wurde zwar eine Studie veröffentlicht, wonach das für die EU verkraftbar wäre, aber „verkraftbar“ klingt für mich auch nicht gerade sehr reizvoll. Wer stürzt sich schon freiwillig auf etwas, das nur verkraftbar ist?
Und abgesehen davon, dass mich die Argumente von wegen Zurückdrängen der Islamisierung, bzw. die Vorbildwirkung einer EU-Türkei für die anderen Länder im Mittleren Osten stark an naive Bush und Rumsfeld-Sprüche, von wegen ein neuer Irak würde wie ein Leuchtfeuer der Demokratie im islamischen Raum wirken, erinnern, möchte ich mal wissen welches islamische Land sich jemals an der Türkei orientiert hat?
Und den strategischen und geopolitischen Nutzen eines EU-Mitglieds Türkei, die noch dazu mit den wenigsten seiner Nachbarn freundschaftliche Beziehungen unterhält, muss mir erst mal jemand erklären. Welchen sicherheitspolitischen Vorteil bringt ein EU-Mitglied Türkei, den sie nicht als NATO-Mitglied auch bringt? Noch dazu da die EU bisher in verteidigungspolitischen Belangen höchstens ein paar Ideen und Konzepte abgeliefert hat, aber noch weit entfernt von einem brauchbaren Verteidigungskonzept ist, das es mit einer echten Krise im Nahen Osten aufnehmen könnte. In dem Fall wäre man wohl wieder auf die NATO und damit den USA angewiesen. -Ein schöner Gedanke.
Deshalb ist mir das Argument, das auch Erdogan diese Woche wieder vorgebracht hat, die EU könnte von der Türkei vor allem sicherheitspolitisch profitieren, mehr als schleierhaft. Durch einen Beitritt sind wir näher an potentiellen Krisenherden als zuvor. Mehr doch nicht.
Es gibt natürlich auch Argumente für einen Beitritt, die kulturellen Unterschiede sind in meinen Augen eher die geringeren Probleme und mit der Zeit sicher überwindbar, aber die Türkei ist eben nicht Ungarn oder die Slowakei, also unmittelbare europäische Nachbarn bei denen man vergleichsweise geringe Probleme adoptiert, sondern ein Gigant mit über 70 Mio Einwohnern, einem starken Bevölkerungswachstum (in 20 Jahren, also nur wenige Jahre nach dem angepeilten Beitrittstermin hochgerechnet 100 Mio Einwohner) und Außengrenzen, die im Krisenfall das derzeitige EU-Verteidigungssystem schlichtweg überfordern würden.
Eine noch verstärktere Partnerschaft gerne, aber die EU ist nun mal kein Missionsverein, der trotz großer eigener Probleme zwei Augen zudrückt, nur um die Demokratisierungsprozesse in anderen Ländern zu stärken. Deshalb bin ich der Meinung erstmal sehen wie man die gerade eben durchgeführte Erweiterung auf lange Sicht politisch, nicht zuletzt was die Handlungsfähigkeit betrifft, und wirtschaftlich -in Hinblick auf die permanent steigenden Arbeitslosenzahlen- verkraftet, ein vernünftiges, krisentaugliches militärisches Konzept erarbeiten und man erst dann an einen Türkei-Beitritt denken sollte.