Woher weiß man eigentlich, daß jemand das, was er/sie sagt oder schreibt auch wirklich meint? Prinzipiell ist es ja schon schwierig, medizinisch/psychologisch auszumachen, wo und wie im Gehirn Entscheidungen getroffen oder Sätze/Äußerungen durch Aneinanderreihung von Worten nach bestimmten Regeln produziert werden und wer dafür eigentlich verantwortlich ist. Es ist auch unklar, wo das sogenannte Ich oder Selbst genau sitzt, dem dann die Entscheidungen, Aktionen, Äußerungen zugeschrieben werden.
Wenn man von einer konkreten Person spricht, geht man meist von einer fest definierten, unveränderlichen Persönlichkeit aus.
Tatsächlich ist aber der Zustand eines Menschen (und damit auch seine Psyche) nicht konstant, so wird zB die Persönlichkeit eines Menschen bereits innerhalb eines Tages stark von Faktoren wie Ausgeruhtheit, Müdigkeit, Hunger, Stress, Alkohol, Drogen, Krankheit, etc. beeinflußt. Wer müde oder unter Stress oder Drogeneinfluß ist macht leichter Fehler als jemand in einem ausgeruhten Zustand. (Deshalb soll man ja auch über wichtige Entscheidungen usw. erst einmal drüber schlafen ... Der Morgen ist klüger als der Abend.) Wer satt ist, ist u.U. großzügiger als jemand, der gerade Hunger hat.
Die meisten Menschen verändern sich auch im Laufe ihres Lebens charakterlich, nicht nur durch das körperliche Altern, sondern u.a. unter Einfluß ihrer (positiven wie negativen) Erfahrungen, ihrer (wechselnden) Umgebung, ihrer (wechselnden) Ziele, Wünsche, Möglichkeiten, ... Die meisten Menschen sind auch lernfähig, können aus ihren Fehlern lernen und sich weiterentwickeln.
Genaugenommen hat also jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt eine einzigartige zeitlich-lokale Persönlichkeit und das Ich von gestern und das Ich von heute sind zwar zwei ähnliche aber doch verschiedene Ichs.
Fehler würde ich in unterschiedliche Kategorien einteilen : reversible und irrelevante auf der einen Seite und irreversible, relevante auf der anderen.
Wenn jemand zB einen anderen Menschen körperlich verletzt, tötet oder seine Lebensgrundlage (Beruf) zerstört, ist das irreversibel.
Wenn jemand einen anderen Menschen beleidigt, also nur mit Worten und nicht physisch verletzt, und diese Beleidigung sowieso niemand ernst nimmt und die Person sich hinterher für die Aktion entschuldigt, ist das reversibel. Es wurde niemand körperlich verletzt. Der Ruf ist vielleicht ramponiert. Im Zweifelsfall ignoriert man den Beleidiger eine Zeit lang ...
Menschen sind nicht perfekt und jeder Mensch macht im Laufe seines Lebens immer wieder Fehler ... Insbesondere ist es leicht, etwas zu sagen oder schreiben, das man später gerne zurücknehmen würde ...
In letzter Zeit scheint es aber so zu sein, daß sich unsere Gesellschaft dank Internet und allgemein zugänglicher Informationen, welche das Leben der meisten Menschen inzwischen rund um die Uhr dokumentieren, zu einer Fehler-intoleranten Gesellschaft hin entwickelt, insbesondere wenn es um eher irrelevante Fehler geht. Sei es, daß 30 Jahre alte Doktorarbeiten ausgegraben und nach Plagiaten durchsucht werden oder unpassende Äußerungen von Prominenten (unter Streß, Ärger, Drogen?) veröffentlicht werden. Der Mensch, der vor 30 Jahren seine Doktorarbeit durch Plagiate aufgewertet hat, kann heute ein ganz anderer Mensch sein. Wie relevant ist das Plagiat von vor 30 Jahren für die Beurteilung seiner heutigen Persönlichkeit? Wie relevant ist eine dumme Äußerung, die man zurücknimmt und für die man sich entschuldigt? Wenn man merkt, daß man sich leicht zu beleidigenden Äußerungen hinreißen läßt, wird man irgendwann (hoffentlich) die Innere Zensur stärken und Beleidigungen unterdrücken statt sie zu äußern. (Dafürbenötigt man natürlich auch Feedback von außen oder innere Einsicht.)
Jeder muß sich selber fragen, in welcher Welt er leben möchte :
- in einer Welt, in der das Leben der Menschen zu 100% dokumentiert wird und selbst die kleinsten Fehler unverzeihlich und unvergessen sind und zum Ausschluß aus der Gesellschaft führen oder
- in einer Welt, in der der Mensch als fehlermachendes und sich weiterentwickelndes Wesen akzeptiert wird und die Gesellschaft sich darauf konzentriert, die irreversiblen Fehler zu vermeiden. (Z.B. Alkohol-Verbot wenn man Auto fährt, weil man totgefahrene Menschen hinterher einfach nicht wieder lebendig machen kann.)
Ich habe das Gefühl, daß sich die heutige (Internet) Gesellschaft viel zu sehr über Kleinigkeiten aufregt. Eine Meldung über einen pöbelnden Hollywoodstar oder sexuelle Belästigung durch einen Hollywood-Produzenten scheint 1000 mal relevanter zu sein als zB eine Meldung über die ca. 30.000 Schußwaffentoten in den USA pro Jahr.
Den Menschen, die Fehler bei anderen Menschen nicht tolerieren können, wünsche ich eine Welt, in der alle Menschen, die einen (noch so unbedeutenden) Fehler machen, von der Erde sofort entfernt werden. Eine solche Welt wäre dann sehr schnell ein (menschenleeres) Naturparadies und schön ruhig.